Mal die Perspektive wechseln

Ein Spark von Dr. Claudia Kleimann-Balke

Es ist nicht immer einfach mit mir! Es reicht meist ein kleiner Anlass und schon krame ich – vielleicht gerade nicht unbedingt benötigtes – Wissen, jahrhundertealte Zitate und historische Fakten aus den hintersten Regionen meiner Gehirnwindungen ... und lasse meine Mitmenschen daran teilhaben.

Sehen wir tatsächlich das, was wir glauben zu sehen? Oder bilden wir uns unsere Umgebung nur ein? Sehe ich das Gleiche, wie mein Gegenüber? Ist grün wirklich grün und blau immer blau? Solche und ähnliche philosophische Fragen habe ich mir während meines Studiums der Kunstwissenschaft gestellt – Hand auf’s Herz … stellen müssen. Als pragmatisch-bodenständiges Kind des Ruhrgebiets war mir die Antworten sonnenklar: „Ja sicher!“

Inzwischen sehe ich das ein klein wenig differenzierter. Natürlich weiß ich, dass nicht alle Menschen dasselbe sehen, wenn sie das Gleiche betrachten. Und das hat nicht nur ophthalmologische Gründe. Im operativen Tagesgeschäft, bei Beratungen unserer Kunden, erleben wir das sehr häufig. So mancher Führungskraft fällt es schwer, sich in seine Mitarbeiter*innen zu versetzen, oder ein Problem einmal aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Es fehlt ihnen mitunter auch schlichtweg die Einsicht, wie wichtig diese Fähigkeit ist. Dabei ist der Perspektivwechsel ein probates und hilfreiches Mittel, um sich Fragestellungen und Problemen zu nähern und sie am Ende zu lösen. Bei der Vorbereitung eines Workshops habe ich deshalb nach einem eingängigen Beispiel für einen Perspektivwechsel gesucht – Frösche und Vögel wollte ich nicht schon wieder bemühen. Stattdessen bin ich auf Kippbilder gestoßen.

Man kennt diese doppeldeutigen Figuren aus po­pu­lär­wis­sen­schaft­li­chen Dar­stel­lun­gen über Wahrnehmungsphänomene, aber auch aus psy­cho­lo­gi­schen Lehr­bü­chern. Erste Ge­sich­ter-Kipp­bil­der tauch­ten im 19. und frü­hen 20. Jahrhundert auf. Die Idee ist aber wohl schon viel älter. Ob Rubin-Becher, Gattin-Schwiegermutter oder Hase-Ente – alle Kippfiguren haben etwas gemeinsam: Sie zeigen mindestens zwei alternative Wahrnehmungsoptionen (deutungsambivalente visuelle Vorlagen) in ein und demselben Bild. Damit verwirren sie den Betrachter – den einen mehr, den anderen weniger. Denn während mancher die unterschiedlichen Bilder innerhalb kürzester Zeit erkennt, stehen andere wie der sprichwörtliche Ochs vorm Berg und das Gesehene will einfach nicht zum zweiten Bild umspringen.

Aber was passiert bei so einem Umspringbild eigentlich? Nun sagen wir es so: Die Nervenzellen in unserem visuellen Cortex laufen Sturm und versuchen das Gesehene zu einem Bild zusammenzufügen – das, lieber Cortex, ist aber ein Ding der Unmöglichkeit. Sehen kann man nämlich immer nur eine der alternativen Sichtweisen. Diese, in unser Bewusstsein getretene Variante, ist dann für etwa drei Sekunden stabil. Danach sucht unser Gehirn nach neuen Wahrnehmungsinhalten. Es versucht, das Bild neu zu interpretieren. In der Folge springt es wieder auf die erste Version um – oder findet bei vielschichtigen Kippbildern weitere Möglichkeiten.

Wie sehr würde uns diese Fähigkeit doch den Arbeitsalltag erleichtern! Einfach drei Sekunden lang auf einen Sachverhalt oder eine Situation geblickt – und gleich werden mindestens zwei Ebenen sichtbar. So einfach wird uns ein Perspektivwechsel meist leider nicht gemacht. Es erfordert Know-how, Empathie und vor allem die ehrliche Bereitschaft, etwas aus einem anderen Blickwinkel betrachten zu wollen – und anschließend wichtige Schlüsse daraus zu ziehen. Hier kann ein Coaching helfen, das Werkzeuge an die Hand gibt und zeigt, wie es geht. Sprechen und zuhören – erfragen, wie die Meinung des Gegenübers oder des Teams ist. Wir werden diesen Austausch in Zukunft immer öfter benötigen.

Denn die immer schneller und komplexer werdende Welt sorgt dafür, dass Menschen Dinge, die sie aus ihrer Perspektive betrachten, nicht mehr begreifen können. ABER … die Anstrengung lohnt sich immer. Denn sie schafft Erkenntnis und damit Verständnis – für Situationen, Entwicklungen und vor allem für Menschen.

Also: Einfach mal die Perspektive wechseln.